Bei erkennbarer Selbstschädigungsgefahr darf ein an Demenz erkrankter Heimbewohner nicht in einem Wohnraum mit einfach zu öffnenden Fenstern untergebracht werden

a) Bei der Beurteilung der Notwendigkeit von Vorkehrungen zur Verhinderung einer Selbstschädigung durch den Bewohner eines Pflegeheims ist maßge-bend, ob im Einzelfall wegen der körperlichen oder geistigen Verfassung des Bewohners aus der ex-ante-Sicht ernsthaft damit gerechnet werden musste, dass er sich ohne Sicherungsmaßnahmen selbst schädigen könnte. Dabei muss auch dem Umstand Rechnung getragen werden, dass bereits eine Ge-fahr, deren Verwirklichung nicht sehr wahrscheinlich ist, aber zu besonders schweren Folgen führen kann, geeignet ist, Sicherungspflichten des Heimträ-gers zu begründen (Bestätigung und Fortführung der Senatsurteile vom 28. April 2005 – III ZR 399/04, BGHZ 163, 53 und vom 22. August 2019 – III ZR 113/18, BGHZ 223, 95).

b) Bei erkannter oder erkennbarer Selbstschädigungsgefahr darf ein an Demenz erkrankter Heimbewohner, bei dem unkontrollierte und unkalkulierbare Hand-lungen jederzeit möglich erscheinen, nicht in einem – zumal im Obergeschoss gelegenen – Wohnraum mit unproblematisch erreichbaren und einfach zu öff-nenden Fenstern untergebracht werden. Ohne konkrete Anhaltspunkte für eine Selbstgefährdung besteht hingegen keine Pflicht zu besonderen (vorbeu-genden) Sicherungsmaßnahmen.

BGH URTEIL III ZR 168/19 vom 14. Januar 2021

BGB § 241 Abs. 2, § 280 Abs. 1, § 823 Aa

BGH, Urteil vom 14. Januar 2021 – III ZR 168/19 – OLG Hamm
LG Bochum

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Der III. Zivilsenat des Bundesgerichtshofs hat auf die mündliche Verhandlung vom 14. Januar 2021 durch den Vorsitzenden Richter Dr. Herrmann und die Richter Dr. Remmert, Reiter, Dr. Kessen und Dr. Herr
für Recht erkannt:
Auf die Revision der Klägerin wird das Urteil des 12. Zivilsenats des Oberlandesgerichts Hamm vom 20. November 2019 aufgehoben.
Die Sache wird zur neuen Verhandlung und Entscheidung, auch über die Kosten des Revisionsrechtszugs, an das Berufungsgericht zurückverwiesen.
Von Rechts wegen
Tatbestand
Die Klägerin nimmt die Beklagte aus übergegangenem und abgetretenem Recht auf Zahlung eines angemessenen Schmerzensgeldes wegen tödlicher Verletzungen in Anspruch, die ihr Ehemann (im Folgenden: Erblasser) bei dem Sturz aus einem Fenster in einem Alten- und Pflegeheim erlitten hat. Sie ist ge-meinsam mit ihrer Tochter dessen Erbin in ungeteilter Erbengemeinschaft.
Der 1950 geborene Erblasser war seit dem 25. Februar 2014 Bewohner eines von der Beklagten betriebenen Alten- und Pflegeheims. Er war hochgradig dement und litt unter Gedächtnisstörungen infolge Korsakow-Syndroms sowie
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psychisch-motorischer Unruhe. Ausweislich eines unter dem 27. Juli 2014 erstell-ten Verlegungsberichts war er örtlich, zeitlich, räumlich und situativ sowie zeit-weise zur Person desorientiert. Die Notwendigkeit besonderer Betreuung wurde im Hinblick auf Lauftendenz, Selbstgefährdung, nächtliche Unruhe und zeitweise Sinnestäuschungen bejaht (Anlage K 2 zur Klageschrift = GA I 10-13).
Die Beklagte brachte den Erblasser in einem Zimmer im dritten Oberge-schoss (Dachgeschoss) unter, das über zwei große Dachfenster verfügte, die gegen unbeaufsichtigtes Öffnen nicht gesichert waren. Der Abstand zwischen dem Fußboden und den Fenstern betrug 120 Zentimeter. Vor den Fenstern be-fanden sich ein 40 Zentimeter hoher Heizkörper sowie in 70 Zentimetern Höhe eine Fensterbank, über die man gleichsam stufenweise zur Fensteröffnung ge-langen konnte. Am Nachmittag des 27. Juli 2014 stürzte der Erblasser aus einem der beiden Fenster. Dabei erlitt er schwere Verletzungen, an denen er trotz meh-rerer Operationen und Heilbehandlungen am 11. Oktober 2014 verstarb.
Die Klägerin hat geltend gemacht, die Beklagte habe geeignete Schutz-maßnahmen zur Verhinderung des Fenstersturzes unterlassen. Aus dem Gut-achten zur Feststellung der Pflegebedürftigkeit vom 19. Dezember 2013 (Anlage K 2a zur Klageschrift = GA I 14-19), den Pflegeberichten (Anlagen K 1 und K 2 zum Schriftsatz der Klägerin vom 7. Mai 2018 = GA I 139-157) und dem Verle-gungsbericht vom 27. Juli 2014 hätten sich zwingende Anhaltspunkte für eine Selbstgefährdung ergeben. Der Erblasser sei gerade auf Grund seiner Demenz mit Gedächtnisstörungen im Pflegeheim der Beklagten untergebracht worden. Dieser habe sich die Möglichkeit eines Sturzes geradezu aufdrängen müssen. Vor diesem Hintergrund stelle die Unterbringung des Erblassers im dritten Ober-geschoss in einem Zimmer, dessen Fenster leicht zu öffnen oder zum Lüften be-reits geöffnet gewesen seien, eine erhebliche Pflichtverletzung dar.
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Die Beklagte ist dem entgegengetreten. Sie habe ihre Überwachungs- und Fürsorgepflichten nicht verletzt. Begründete Anhaltspunkte für eine Selbstschä-digungs- oder Suizidgefahr hätten nicht vorgelegen. Zu einer dauerhaften Über-wachung des Erblassers sei sie nicht verpflichtet gewesen.
Das Landgericht hat die auf Zahlung eines angemessenen Schmerzens-geldes von mindestens 50.000 € nebst Zinsen und vorgerichtlichen Rechtsan-waltskosten gerichtete Klage abgewiesen. Die Berufung der Klägerin hat keinen Erfolg gehabt. Mit der vom erkennenden Senat zugelassenen Revision verfolgt sie ihr Klagebegehren weiter.
Entscheidungsgründe
Die zulässige Revision der Klägerin hat Erfolg. Sie führt zur Aufhebung des angefochtenen Urteils und zur Zurückverweisung der Sache an das Beru-fungsgericht.
I.
Das Oberlandesgericht hat zur Begründung seiner Entscheidung im We-sentlichen ausgeführt:
Ein auf die Erben übergegangener Schmerzensgeldanspruch des Erblas-sers (§ 253 Abs. 2 BGB) ergebe sich weder aus § 280 Abs. 1 i.V.m. §§ 278, 611 BGB noch aus § 823 Abs. 1, § 831 BGB. Dem Vortrag der darlegungs- und be-weispflichtigen Klägerin und den vorgelegten Unterlagen könne nicht entnommen
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werden, dass die Beklagte ihre vertraglichen Obhutspflichten oder die allgemeine Verkehrssicherungspflicht verletzt habe. Allein aus dem Umstand, dass ein Heimbewohner im Bereich des Pflegeheims stürze und sich dabei verletze, könne nicht auf eine schuldhafte Pflichtverletzung des Pflegepersonals geschlos-sen werden. Der Erblasser habe sich nicht in einer konkreten Gefahrensituation befunden, die gesteigerte Obhutspflichten ausgelöst habe und deren Beherr-schung einer speziell dafür eingesetzten Pflegekraft anvertraut gewesen sei. Der Sturz habe sich vielmehr im normalen, alltäglichen Gefahrenbereich ereignet, welcher grundsätzlich der jeweils eigenverantwortlichen Risikosphäre des Ge-schädigten zuzurechnen sei (Hinweis auf Senatsurteil vom 28. April 2005 – III ZR 399/04, BGHZ 163, 53). Vorkehrungen gegen ein Hinausklettern über das Fens-ter hätten nur dann getroffen werden müssen, wenn mit einer solchen Selbstge-fährdung wegen der Verfassung des Erblassers und seines Verhaltens (ernst-haft) hätte gerechnet werden müssen. Hierfür fehlten hinreichende Anhalts-punkte. Technische Regelungen (z.B. DIN-Normen), die Vorkehrungen gegen das Heraussteigen aus dem Fenster in einem Alten- und Pflegeheim vorsähen und gegebenenfalls zur Konkretisierung des Umfangs der Obhuts- und Verkehrs-sicherungspflichten der Beklagten herangezogen werden könnten (Hinweis auf Senatsurteil vom 22. August 2019 – III ZR 113/18, BGHZ 223, 95), existierten nicht. Allein daraus, dass in dem Verlegungsbericht vom 27. Juli 2014 Unruhe-zustände, eine Lauftendenz sowie Selbstgefährdung bejaht worden seien und der Erblasser möglicherweise zuletzt viel Freude an Aufenthalten im Garten emp-funden habe, habe sich für die Beklagte und das Pflegepersonal keine Besorgnis ergeben müssen, er könnte versuchen, durch Klettern aus einem Fenster nach draußen zu gelangen. Vielmehr belegten die Pflegeberichte, dass der Erblasser sich vor dem Fenstersturz lediglich in dem Heimbereich bewegt und insoweit un-kontrollierte Lauftendenzen aufgewiesen habe. Das nur unter dem 26. Februar
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2014 dokumentierte mehrfache Herausklettern aus einem RCN-Walker (Gehwa-gen) sei mit dem Hinausklettern durch ein Fenster nicht vergleichbar. Soweit in dem Verlegungsbericht vom 27. Juli 2014 von Selbstgefährdung die Rede sei, sei nicht ersichtlich, in welcher Hinsicht diese bestanden habe. Allein der geistige Zustand des Erblassers und das daraus resultierende inadäquate Verhalten in anderen Bereichen hätten es nicht erforderlich gemacht, Sicherungsmaßnahmen hinsichtlich der Fenster zu ergreifen.
II.
Diese Ausführungen halten der rechtlichen Überprüfung in einem wesent-lichen Punkt nicht stand.
Mit der vom Berufungsgericht gegebenen Begründung kann der geltend gemachte Schmerzensgeldanspruch (§ 253 Abs. 2 BGB) wegen Verletzung einer vertraglichen Schutzpflicht (§ 280 Abs. 1, § 241 Abs. 2, § 278 Satz 1 BGB) be-ziehungsweise einer deliktischen Verkehrssicherungspflicht (§ 823 Abs. 1, § 823 Abs. 2 BGB i.V.m. § 229 StGB, § 831 BGB) nicht verneint werden. Bei der gebo-tenen Abwägung der gesamten Umstände des Einzelfalls sind wesentliche Ge-sichtspunkte unberücksichtigt geblieben. Insbesondere fehlt eine medizinisch fundierte Risikoprognose im Hinblick auf die durch ausgeprägte Demenzerschei-nungen gekennzeichnete geistige und körperliche Verfassung des Erblassers.
1. Zutreffend ist das Berufungsgericht allerdings davon ausgegangen, dass durch den Heimvertrag Obhutspflichten der Beklagten gemäß § 241 Abs. 2 BGB zum Schutz der körperlichen Unversehrtheit des ihr anvertrauten Erblassers be-
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gründet wurden. Ebenso bestand eine inhaltsgleiche allgemeine Verkehrssiche-rungspflicht zum Schutz der Bewohner vor gesundheitlichen Schädigungen, die ihnen wegen Krankheit oder sonstiger körperlicher oder geistiger Einschränkun-gen durch sie selbst oder durch die Einrichtung und bauliche Gestaltung des Heims drohten. Eine schuldhafte Verletzung dieser Pflichten war geeignet, so-wohl einen Schadensersatzanspruch wegen vertraglicher Pflichtverletzung (§ 280 Abs. 1, § 278 Satz 1 BGB) als auch einen damit korrespondierenden de-liktischen Anspruch aus §§ 823, 831 BGB zu begründen (Senatsurteile vom 28. April 2005 – III ZR 399/04, BGHZ 163, 53, 55 und vom 22. August 2019 – III ZR 113/18, BGHZ 223, 95 Rn. 12; jeweils mwN).
2. Das Berufungsgericht hat auch gesehen, dass diese Pflichten auf die in vergleichbaren Heimen üblichen gebotenen Maßnahmen begrenzt sind, die mit einem vernünftigen finanziellen und personellen Aufwand realisierbar sind. Maß-stab ist das Erforderliche und das für die Heimbewohner und das Pflegepersonal Zumutbare. Dabei ist insbesondere auch zu beachten, dass beim Wohnen in ei-nem Heim die Würde sowie die Interessen und Bedürfnisse der Bewohner vor Beeinträchtigungen zu schützen und die Selbständigkeit, die Selbstbestimmung und die Selbstverantwortung der Bewohner zu wahren und zu fördern sind (vgl. § 2 Abs. 1 Nr. 1 und 2 HeimG; Senatsurteile vom 28. April 2005 aaO und vom 22. August 2019 aaO Rn. 13).
3. Welchen konkreten Inhalt die Verpflichtung des Heimträgers hat, einer-seits die Menschenwürde und das Freiheitsrecht eines körperlich und geistig be-einträchtigten (demenzkranken) Heimbewohners zu achten und andererseits sein Leben und seine körperliche Unversehrtheit zu schützen, kann nicht gene-rell, sondern nur aufgrund einer sorgfältigen Abwägung sämtlicher Umstände des jeweiligen Einzelfalls entschieden werden (Senatsurteile vom 28. April 2005 aaO
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S. 55 und vom 22. August 2019 aaO Rn.14; siehe auch OLG Koblenz, NJW-RR 2002, 867, 868).
a) Entscheidend ist jeweils, welchen Gefahren der Bewohner auf Grund seiner individuellen körperlichen und geistigen Verfassung ausgesetzt ist. Der Maßstab für die einzuhaltende Sorgfalt und die eventuell zu treffenden Siche-rungsvorkehrungen ergibt sich daher aus einer ex-ante-Betrachtung, die sich los-gelöst von den abstrakt denkbaren Sicherheitsrisiken an der konkreten Pflegesi-tuation zu orientieren hat (vgl. BeckOGK/Spindler, BGB, § 823 Rn. 1016 [Stand: 1. November 2020]). Maßgebend ist, ob im Einzelfall wegen der Verfassung des pflegebedürftigen Bewohners aus der ex-ante-Sicht ernsthaft damit gerechnet werden musste, dass er sich ohne Sicherungsmaßnahmen selbst schädigen könnte (vgl. OLG Düsseldorf, OLGR 2004, 362, 363; Urteile vom 28. April 2005 – I-8 U 120/04, juris Rn. 28 und vom 16. Juni 2005 – I-8 U 124/03, juris Rn. 36; OLG Köln, GesR 2010, 691, 692; OLG Dresden, Urteil vom 2. Juli 2010 – 4 U 307/10, juris Rn. 7; OLG Hamm, Urteil vom 7. November 2011 – 3 U 140/11, juris Rn. 30; Thüringer OLG, NJW-RR 2012, 1419; OLG Hamm, FamRZ 2017, 1439). Dabei muss allerdings auch dem Umstand Rechnung getragen werden, dass be-reits eine Gefahr, deren Verwirklichung nicht sehr wahrscheinlich ist, aber zu be-sonders schweren Folgen führen kann, geeignet ist, Sicherungspflichten des Heimträgers zu begründen (vgl. Senatsurteil vom 22. August 2019 aaO Rn. 25).
Erst wenn eine solche Risikoprognose getroffen wurde, aus der sich ergibt, mit welchen – auch unkalkulierbaren – Verhaltensweisen aus medizini-scher Sicht auf Grund der geistigen und körperlichen Verfassung des Bewohners zu rechnen ist, können eine etwaige Selbstschädigungsgefahr, die erforderlichen Einschränkungen des persönlichen Freiheitsbereichs des Heimbewohners sowie
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die personellen und finanziellen Möglichkeiten eines Pflegeheims sachgerecht gegeneinander abgewogen werden.
b) Entsprechend diesen Grundsätzen hat der Senat in dem Urteil vom 22. August 2019 keine generelle Pflicht angenommen, die Trinkwasserinstalla-tion in den Zimmern der Heimbewohner mit technischen Einrichtungen zur Be-grenzung der Wassertemperatur auszurüsten, sondern eine Obhutspflichtverlet-zung gerade und nur wegen der individuellen Verfassung der Bewohnerin und ihrer Unfähigkeit, die Gefahrenlage zu beherrschen, bejaht (aaO Rn. 24–26). Vergleichbar hat der Senat in einem Fall argumentiert, in dem ein Patient auf einer geschlossenen psychiatrischen Station einer Klinik in suizidaler Absicht ein Fenster gewaltsam geöffnet und durch einen Sprung aus dem Fenster schwere Verletzungen erlitten hatte (Urteil vom 31. Oktober 2013 – III ZR 388/12, NJW 2014, 539 Rn. 15, 17). Der Senat hat keine generelle Pflicht angenommen, sämt-liche Räume der Station mit nicht zu öffnenden Fenstern auszustatten, sondern die zugunsten des Patienten bestehende Schutzpflicht nur darin gesehen, ihn bei erkannter oder erkennbarer Suizidabsicht nicht in einem normalen Patientenzim-mer mit zu öffnenden oder kippbaren Fenstern unterzubringen. Eine Pflichtver-letzung wurde verneint, weil keine konkreten Anhaltspunkte für eine Selbstge-fährdung bestanden und der Selbstmordversuch nicht vorhersehbar war (vgl. auch BGH, Urteil vom 20. Juni 2000 – VI ZR 377/99, NJW 2000, 3425 zu Schutz-maßnahmen in einer offenen Station einer psychiatrischen Klinik gegen einen Sprung vom Balkon).
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Dementsprechend darf bei erkannter oder erkennbarer Selbstschädi-gungsgefahr ein (hochgradig) an Demenz erkrankter Heimbewohner, bei dem unkontrollierte und unkalkulierbare Handlungen jederzeit möglich erscheinen, nicht in einem – zumal im Obergeschoss gelegenen – Wohnraum mit unproble-matisch erreichbaren und einfach zu öffnenden Fenstern untergebracht werden. Ohne konkrete Anhaltspunkte für eine Selbstgefährdung besteht hingegen keine Pflicht zu besonderen (vorbeugenden) Sicherungsmaßnahmen.
4. Die tatrichterliche Würdigung des Berufungsgerichts, die Beklagte und das betreuende Pflegepersonal hätten Vorkehrungen gegen ein Heraussteigen des Erblassers aus einem der Fenster seines Heimzimmers für entbehrlich halten dürfen, ist unvollständig und somit rechtsfehlerhaft, weil für die zu treffende Ab-wägungsentscheidung wesentliche Gesichtspunkte nicht berücksichtigt wurden. Das Berufungsgericht hätte insbesondere auf der Grundlage einer sorgfältigen, das gesamte Krankheitsbild des Pflegebedürftigen in den Blick nehmenden ex-ante-Risikoprognose – gegebenenfalls sachverständig beraten – entscheiden müssen. Stattdessen hat es sich damit begnügt, einzelne dokumentierte De-menzerscheinungen lediglich isoliert und eher kursorisch zu betrachten, ohne in-soweit eigene besondere Sachkunde auszuweisen (vgl. BGH, Urteil vom 9. Ja-nuar 2018 – VI ZR 106/17, NJW 2018, 2730 Rn. 16).
a) Das Berufungsgericht hat bereits keine Feststellungen dazu getroffen, ob in vergleichbaren Pflegeheimen bei der Unterbringung von demenzkranken Patienten, bei denen unkontrollierte und unkalkulierbare Handlungen möglich er-scheinen, Fenstersicherungen oder gleichwertige Sicherungsmaßnahmen zum üblichen Standard in den Wohnräumen gehören. Derartige Feststellungen waren erforderlich, weil sich der Pflichtenumfang eines Heimträgers nach der Senats-
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rechtsprechung (auch) an den in vergleichbaren Pflegeheimen üblichen Maßnah-men orientiert (Senatsurteil vom 22. August 2019 aaO Rn. 18). So wurden in der obergerichtlichen Rechtsprechung bei Verwirrtheitszuständen und Weglauften-denzen notwendige Vorkehrungen gegen ein Hinaussteigen durch das Fenster schon frühzeitig als zwingend geboten angesehen (z.B. OLG Düsseldorf, Urteil vom 16. Juni 2005 – I-8 U 124/03, juris Rn. 39). Sollte die Sicherung von Fenstern ein üblicher Sicherheitsstandard sein, könnte allein dessen Fehlen den Vorwurf einer Pflichtverletzung begründen.
b) Nach den Feststellungen der Vorinstanzen, die vor allem auf dem Gut-achten zur Feststellung der Pflegebedürftigkeit vom 19. Dezember 2013, den Pflegeberichten bis zum 27. Juli 2014 und dem Verlegungsbericht vom 27. Juli 2014 beruhen, lagen bei dem Erblasser schon zu Beginn seines Aufenthalts im Pflegeheim der Beklagten schwere Demenzerscheinungen vor. Er litt nicht nur unter Gedächtnisstörungen infolge Korsakow-Syndroms und zeitweise unter Sin-nestäuschungen, sondern wies auch – bei hoher Mobilität – eine psychisch-moto-rische Unruhe mit unkontrollierten Lauftendenzen auf. Indem er mehrfach aus dem ihm zugewiesenen Gehwagen herauskletterte, stellte er eine gewisse mo-torische Geschicklichkeit unter Beweis. Darüber hinaus zeigte er inadäquate Ver-haltensweisen mit Selbstgefährdungstendenzen und war zeitlich, örtlich, räum-lich und situativ sowie zeitweise auch zur Person desorientiert. Die Pflegedoku-mentation verzeichnet zahlreiche Ereignisse, bei denen der Erblasser unruhig war, über die Etage lief und diese teilweise auch verließ. Zum Beispiel wurde er am 28. April 2014 mehrmals im Treppenhaus aufgefunden. Am 3. Mai 2014 ver-ließ er die Etage durch den Notausgang. In dem Bericht vom 15. Februar 2014 des Pflegeheims, in dem der Erblasser zuvor untergebracht war (Anlage K 1 zum Schriftsatz der Klägerin vom 7. Mai 2018 = GA I 139), ist dokumentiert, dass zeitweises Halluzinieren und Hinlauftendenzen “in extremem Maße” vorhanden
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waren und Sturzgefahr bestand, weil der Erblasser sich unkontrolliert und orien-tierungslos dem Treppenabsatz näherte.
Da die leicht zu öffnenden, nicht gesicherten Fenster in dem dem Erblas-ser zugewiesenen Zimmer über den davor befindlichen Heizkörper und das Fens-terbrett gleichsam treppenartig erreicht werden konnten, war es für einen zwar dementen, aber körperlich nicht besonders eingeschränkten Bewohner – wie den Erblasser – ohne weiteres möglich, zur Fensteröffnung zu gelangen und nach draußen auf eine 60 Zentimeter tiefe horizontale Dachfläche zu treten.
c) Bei dieser Sachlage konnten unkontrollierte und unkalkulierbare selbst-schädigende Handlungen infolge von Desorientierung und Sinnestäuschungen – jedenfalls ohne sachverständige medizinische Beratung – nicht von vornherein ausgeschlossen werden, wobei auch ein Verlassen des Zimmers über ein leicht zugängliches, möglicherweise sogar geöffnetes Fenster (siehe Ermittlungsbe-richt des Polizeipräsidiums Bochum vom 27. Juli 2014, S. 3 = Anlage 3 zur Kla-geschrift = GA I 22) in Betracht gezogen werden musste (vgl. OLG Hamm, FamRZ 2017, 1439). Ein ungesichertes Fenster – zumal im dritten Oberge-schoss – war für den Erblasser nicht nur mit einer abstrakten Gefahr verbunden. Auf Grund seiner hochgradigen Demenzerkrankung konnte er möglicherweise nicht erkennen, dass das leicht zugängliche Fenster nicht zum Verlassen des Zimmers geeignet war. In diesem Zusammenhang ist auch näher in den Blick zu nehmen, dass der Erblasser ausweislich der Pflegedokumentation in den letzten Wochen vor dem Fenstersturz mehrfach begleitete Spaziergänge im Garten des Pflegeheims unternommen und erkennbar große Freude empfunden hatte (An-lage K 2 zum Schriftsatz der Klägerin vom 7. Mai 2018 = GA I 151, 154/155). Dabei kommt es nicht entscheidend darauf an, ob ein solcher Unglücksfall nahe-lag. Wie bereits ausgeführt, kann auch eine Gefahr, deren Verwirklichung nicht
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sehr wahrscheinlich ist, aber zu besonders schweren Folgen führen kann, Siche-rungspflichten des Heimträgers auslösen. Angesichts der Schwere der bei einem Sturz aus einem Fenster des dritten Obergeschosses drohenden Körperschäden musste die Beklagte auch einer nicht sehr wahrscheinlichen, aber gleichwohl nicht mit hinreichender Sicherheit ausgeschlossenen Gefahrverwirklichung Rechnung tragen (vgl. Senatsurteil vom 22. August 2019 aaO Rn. 25). Dies hat das Berufungsgericht übersehen.
5. Eine etwaige Pflichtverletzung der Beklagten wäre auch fahrlässig im Sinne des § 276 Abs. 2 BGB (i.V.m. § 280 Abs. 1 Satz 2, § 278 Satz 1 bezie-hungsweise § 831 BGB). Bei erkennbarer, nicht lediglich abstrakt bestehender Selbstschädigungsgefahr war die Ergreifung von Sicherungsmaßnahmen zur Verhinderung eines Fenstersturzes zwingend geboten. Es hätte zum Beispiel ausgereicht, verschließbare Fenstergriffe anzubringen oder die Fenster in Kippstellung zu verriegeln. Für die Menschenwürde und das Freiheitsrecht des Heimbewohners hätte dies keine unzumutbare Beeinträchtigung bedeutet.
III.
1. Das angefochtene Urteil ist demnach aufzuheben (§ 562 Abs. 1 ZPO) und die Sache zur neuen Verhandlung und Entscheidung an das Berufungsgericht zurückzuverweisen (§ 563 Abs. 1 ZPO). Da weitere Feststellungen zu treffen sind, ist der Senat zu einer eigenen Sachentscheidung nach § 563 Abs. 3 ZPO nicht in der Lage.
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2. Für das weitere Verfahren weist der Senat darauf hin, dass das Berufungs-gericht ungeachtet der rechtsfehlerhaft unterlassenen Feststellungen die Darle-gungs- und Beweislast für die tatsächlichen Voraussetzungen einer Pflichtverlet-zung der Bediensteten der Beklagten richtig beurteilt hat.
Es hat das Sturzgeschehen zutreffend dem “normalen, alltäglichen Gefah-renbereich” im Heim zugeordnet. Kommt der Bewohner in einer solchen Situation zu Schaden, fällt dies grundsätzlich in seine Risikosphäre mit der Folge, dass er für die Pflichtverletzung des Heimträgers und deren Kausalität darlegungs- und beweisbelastet ist (Senatsurteil vom 28. April 2005 – III ZR 399/04, BGHZ 163, 53, 56 f). Die mit der Unterbringung in einem üblichen Heimwohnraum verbunde-nen Gefahren gehören grundsätzlich zum allgemeinen Lebensrisiko und betref-fen nicht den vom Heimträger voll beherrschbaren Gefahrenbereich. Das Beru-fungsgericht hat es daher zu Recht abgelehnt, allein aus dem Umstand, dass der Erblasser aus dem (nicht verriegelten) Fenster seines Zimmers gestürzt ist, auf eine kausale und schuldhafte Pflichtverletzung des Pflegepersonals der Beklag-ten zu schließen.
a) Nach der höchstrichterlichen Rechtsprechung kommt dem Verletzten als Gläubiger eines Schadensersatzanspruchs eine Beweislastumkehr dahinge-hend, dass der Schuldner den Nachweis seines pflichtgemäßen Verhaltens füh-ren muss, allerdings dann zugute, wenn der Gläubiger im Herrschafts- und Or-ganisationsbereich des Schuldners zu Schaden gekommen ist und die den Schuldner treffenden Vertragspflichten (auch) bezweckten, den Gläubiger ge-rade vor einem solchen Schaden zu bewahren. Danach muss der Krankenhaus-träger bei Risiken insbesondere aus dem Krankenhausbetrieb, die von der Klinik und dem dort tätigen Personal voll beherrscht werden können, darlegen und be-weisen, dass der Schaden nicht auf einem pflichtwidrigen Verhalten beruht (BGH,
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Urteil vom 18. Dezember 1990 – VI ZR 169/90, NJW 1991, 1540, 1541: Beweis-lastumkehr zulasten des Krankenhausträgers, wenn ein Patient bei einer Bewe-gungs- und Transportmaßnahme der ihn betreuenden Krankenschwester stürzt; siehe nunmehr § 630h Abs. 1 BGB). Daran anknüpfend hat der Senat – bezogen auf den Betrieb eines Pflegewohnheims – für eine Beweislastumkehr das Vorlie-gen einer konkreten Gefahrensituation verlangt, die gesteigerte Obhutspflichten auslöste und deren Beherrschung einer speziell dafür eingesetzten Pflegekraft anvertraut worden war. Es genügt nicht, dass sich ein Schaden in den Räumen beziehungsweise im Bereich des Pflegeheims ereignet hat (Senatsurteil vom 28. April 2005 aaO S. 56; siehe auch OLG Dresden, NJW-RR 2000, 761: Sturz einer Pflegeheimbewohnerin beim begleiteten Gang zur Toilette; OLG Hamm, MDR 2012, 153: Sturz einer Pflegeheimbewohnerin beim Wechseln der Bettwä-sche durch einen Pfleger).
b) Nach diesen Grundsätzen kommt eine Beweislastumkehr im vorliegen-den Fall nicht in Betracht. Zwar hat die Beklagte die Gefahrensituation, die sich im Sturz des Erblassers verwirklicht hat, eröffnet, indem sie ihn in einem Zimmer ohne Fenstersicherung untergebracht hat. Dies rechtfertigt aber nicht die An-nahme einer konkreten Gefahrensituation, die gesteigerte Obhutspflichten aus-löste. Der Vorfall ereignete sich vielmehr außerhalb des voll beherrschbaren Ge-fahrenbereichs des Heimträgers. Der Erblasser war zum Zeitpunkt des Fenster-sturzes nicht der Obhut einer Pflegekraft im Rahmen einer konkreten Pflege- oder Betreuungsmaßnahme anvertraut. Er hielt sich überwiegend allein in sei-nem Zimmer auf und musste nicht dauerhaft persönlich betreut und begleitet wer-den (siehe auch OLG Hamm, NJW-RR 2003, 30, 31; OLG München, VersR 2004, 618, 619; OLG Köln, VersR 2015, 1393, 1394; OLG Düsseldorf, VersR 2017,
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501, 502 f; jeweils zu Schadensfällen außerhalb der unmittelbaren Risikosphäre des Heimträgers).

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